Helen Chadwick im Barbican





Auf einem Plattencover der Musik-Band 'The Undertones' von 1983 erscheint eine Postpunk-Schönheit eingewickelt in ein Kleid aus Fleisch- und Schinkenstreifen … , "dressed to grill". Das ist gleichzeitig mit dem Auftauchen der Künstlerin Helen Chadwick in der Londoner Kunstszene und zeigt das geistige Umfeld und das Klima in dem ihre Werke enstanden. Sie ist unverkennbar ein Kind der Achtziger Jahre und der Punk und Goth-Ästhetik. Die Schau in der Barbican Artgallery ist die erste Retrospektive der Künstlerin, die in den Grundstein legte für die Anerkennung zeitgenössischer Kunst in Grossbritannien und somit richtungsweisend wurde für die YBAs (Young British Artists) - oder, weit weniger schmeichelhaft der "Saatchi Generation". Sie starb vor acht Jahren im Alter von nur 42 Jahren.
In ihrer Neigung zum Dekadent-Sinnlichen, Taktilen, zu Überreife nahe am Verfall, körperlichen Sekreten jeglicher Art, Materialen unterschiedlichster Konsistenz und Provenienz, nichts verneinend, nichts ablehnend, verweist sie auf die Schönheit des vermeintlich Hässlichen und Abstossenden, bleibt dabei jedoch nie lediglich in oberflächlicher Provokation stecken. Konzept und Idee formen für sie eine Einheit mit der Ausführung, dem vollendeten Kunstwerk, und damit hebt sie sich so wohltuend vom marktschreierischen Getue der Emins, Hursts oder Chapmans ab. Vielleicht liegt es ja in der Familie - ihr Vater Lynn Chadwick, 2003 verstorben, gehörte zu der Nachfolgegeneration Henry Moores. Graham Sutherlands und Barbara Hepworths und wurde einer der bekanntesten Bildhauer Grossbritanniens. Ihr Sohn Daniel ist ebenfalls bereits als Künstler tätig.
Man mag sich fragen, ob man durch das Lüftungssytem indirekterweise an dem Pausenkakao der Museumsadminsitration teilnimmt, denn gelegentlich scheint Schokoladenduft die Räume zu durchziehen. Man mag es auf Schlamperei am Bau schieben - man kennt ja britische Qualitätsarbeit zur Genüge - der weitere Gang durch die Schau belehrt jedoch bald eines Besseren. 'Cacao and the Wreaths to Pleasure' ist eine typische Installation der Künstlerin - durchaus augenzwinkerend, der Humor in Chadwicks Werken ist bei allem intellektuellen Tiefgang manchmal etwas unterschätzt. Über deren Wert als Kunstwerk äusserte sie sich jedenfalls sympathischerweise in einem Interview als nicht gänzlich überzeugt. Aus einer phallisch aufragenden Vorrichtung in seiner Mitte blubbert flüssige Schokolade in ein rundes Becken, wabbert in Schlieren durch die braune Brühe, schwängert die Atmosphäre mit ihrem sinnlich-weichen dekadenten Duft. Die Frage ist, bleibt's so, oder was passiert in wenigen Wochen? Ebenfalls in der Ausstellung jenes Stück, das ihr 1983 zum Durchbruch verhalf und das bereits ihre Handschrift trägt. 'Ego Geometria sum' lebt vom Kontrast der Materialien und Dimensionen - Graphik auf Holz, flächige Projektion und dreidimensionale Installation. Bezogen sind die Sperrholzgebilde mit Fotos ihres eigenen, nackten Körpers, was ihr auch in der Folge weiterer Arbeiten wie z.B. dem ebenfalls ausgestellten 'Oval Court', erzürnte Angriffe von feministischer Seite eintrug. Was schliesslich dazu führte, dass sie bewusst auf die Darstellung ihres Körpers verzichtete; da dies, wie sie betonte, Kritikern die Assoziation der Werke mit einer Künstlerin und daher, als weibliche Kunst, zu einfach machte. Und das, als der Besucher angesichts ihres Oeuvres überzeugt sein worden mag, dass weibliche Kunst durchaus existiert.
Es eröffnet sich in den wunderbar schlichten Räumen der Barbican Artgallery eine Welt oft berückender Schönheit, deren schockierender Inhalt häufig erst auf einen zweiten Blick deutlich wird - so beispielsweise in der Präsentation der 'Unnatural Selections'. In dieser Serie, an der sie zum Zeitpunkt ihres Todes arbeitete, und die Ergebnis ihres Stipendiats am King's College Hospital in London war, kombiniert sie die Bilder befruchteter Eizellen, Blumen, Körperorgane zu Monstranzen und Perlengehängen, gleichermassen und wenn man so will, den religiösen und den kommerziellen Aspekt von Empfängnis und Befruchtung verdeutlichend.
Sozusagen fleischgeworden ist ihre Kunst in der 'Meat Lamps' und der 'Meat Abstracts'-Serie, in der sie die Kontrastierung von Materialien unterschiedlichster Herkunft und Beschaffenheit auf die Spitze treibt. Innereien, Metallkugeln, Kalbszungen, Wildleder, tote Hühner, Lampen bilden schauerlich-faszinierende Stilleben mit endlosem Deutungshorizont.
Ihr endloses Experimentieren mit unterschiedlichsten Materialien und eines ihrer witzigsten Werke sind die 'Piss Flowers', am besten genossen zur Rezitation von 'Piss Posy' auf dem Audioguide, ein geradezu harntreibendes Gedicht. Wüsste man nicht um die Enstehung jener eigenartig abstrakt geformten Plastiken, man könnte sie fast für Kunst gehalten haben.
Am Ende stehen jene Blumen stellvertretend für Helen Chadwicks Kunst, ihrer hintergründig lächelnden Bejahung des Körperlichen, Diesseitigen und aller Substanzen aus denen der Mensch besteht - seien die nun widerlich oder nicht.


Helen Chadwick. A Retrospective, Barbican Artgalllery, bis 1.August 2004, Katalog Mark Sladen (ed.), zahlreich farbige Abb., 168 S., Hatje Cantz Publishers, £22.

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© Dirk Bennett 2003